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Appetitlosigkeit bei Krebs

Was du als Angehörige*r wissen solltest


Essen ist etwas zutiefst Menschliches. Es bedeutet Nähe, Trost, Normalität.

Wenn ein geliebter Mensch plötzlich nicht mehr essen möchte oder kaum etwas herunterbringt, kann das sehr verunsichern. Viele Angehörige sorgen sich dann nachvollziehbar: „Wenn er nichts isst, wird er schwächer. Wenn er schwächer wird, wird er noch kränker. Was, wenn er mir verhungert?”


Doch Appetitlosigkeit bei Krebs ist Teil der Krankheit und hat Gründe – klare, biologische, nachvollziehbare Gründe.

Und je besser wir sie verstehen, desto weniger kämpfen wir dagegen an.

Denn Druck hilft nicht. Verständnis aber verändert alles.


Teller mit traurigem Gesicht

Was im Körper passiert: Die Krebskachexie


Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Müdigkeit und der Abbau von Muskelmasse treten bei vielen Tumorerkrankungen auf. Dieses Muster nennt sich Kachexie.

Es ist kein Zeichen von „Aufgeben“ oder „keine Kraft mehr haben“, und es entsteht nicht dadurch, dass zu wenig gegessen wird.

Die Kachexie ist ein aktives biologisches Syndrom, das der Tumor selbst mit beeinflusst.



1. Entzündungsbotenstoffe verändern das Hungergefühl


Tumore schütten sogenannte Zytokine aus – unter anderem IL-1, IL-6 und TNF-alpha.

Diese Botenstoffe erreichen das Gehirn und verändern das Zentrum für Hunger und Sättigung direkt im Hypothalamus.

Das heisst ganz konkret:

Der Körper sendet keinen Hungerreiz mehr. Selbst wenn Energie dringend gebraucht wird.

Für den betroffenen Menschen fühlt sich Essen dann nicht nur „unnötig“ an – oft sogar abstossend oder belastend.



2. Der Stoffwechsel wird umprogrammiert


Tumorzellen wachsen schnell und unkontrolliert. Um das zu ermöglichen, verändern sie den Energiestoffwechsel:

  • Der Körper verbraucht mehr Kalorien, selbst in Ruhe.

  • Muskel- und Fettreserven werden abgebaut, unabhängig von der Kalorienzufuhr.

  • Der Körper wechselt in einen katabolen Zustand – er baut ab, statt aufzubauen.


Menschen verlieren also ihre Kraft nicht dadurch, dass sie „zu wenig essen“, sondern weil ihr Stoffwechsel stark verändert ist.



3. Krebsbehandlungen beeinflussen Geschmack, Verdauung und Wohlbefinden


  • Eine Chemotherapie kann Geschmacksveränderungen auslösen (häufig metallisch oder bitter).

  • Bestrahlungen können Schmerzen im Mund und Rachen verursachen.

  • Immuntherapien können Übelkeit, Erschöpfung und Entzündungen verstärken.

  • Schmerzmittel können zu Verstopfungen führen.


Der Körper möchte sich schützen – und schaltet das Programm "Essen" herunter.



4. Emotionen und Stress spielen eine Rolle


Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust – all das aktiviert das Nervensystem.

Wenn der Körper im Fight-or-Flight-Modus ist, wird der Magen-Darm-Trakt heruntergefahren.

Der Körper sagt:„Überleben hat jetzt Vorrang, nicht Verdauung.”



Was bedeutet das für dich als Angehörige*r?


Appetitlosigkeit ist keine Entscheidung des geliebten Menschen.

Sie ist kein Zeichen von „nicht mehr kämpfen wollen“.

Sie ist auch sicher kein Versagen. Weder vom Kranken noch von dir!

Sie ist eine körperliche Anpassungsreaktion, die wir leider oft nur mit Geduld, Verständnis und gezielten Interventionen begleiten können.


🌿 Praktische Tipps für die Unterstützung im Alltag


Diese Tipps kommen direkt aus Pflege, Ernährungsmedizin und Palliativbegleitung:


1. Kleine, energiereiche Mahlzeiten statt grosse Portionen


  • Hochkalorische Drinks (auch selbstgemacht: z.B. mit Nussmilch + Nussmus + Banane + Hafer)

  • Suppen, Smoothies, milde Pürees

  • Keine Teller „vollpacken“ – das erzeugt Druck.


2. Essen darf schön sein


  • Warmes Licht, ruhige Atmosphäre

  • Sanfte Musik oder Stille

  • Das Gefühl von Essen als Ritual, nicht Pflicht


3. Bitterstoffe und Zitrone regen den Speichelfluss an


  • Zitronenwasser vor dem Essen anbieten

  • Artischocke, Chicorée, Rucola → steigert Magensaftproduktion


4. Protein sanft integrieren


  • Weiche Eiweissquellen (Tofu, Eier, Fisch, Hülsenfrüchte gut gekocht)

  • Kollagenpulver oder Proteinpulver gibt es auch mit neutralem Geschmack für Tee, Kaffee oder Brei


5. Entzündungshemmende Kräuter


  • Kurkuma, Ingwer, Rosmarin, Thymian (z. B. als Tee oder mild in Speisen)


6. Druck rausnehmen


Sag stattdessen:

«Lass uns gemeinsam schauen, was sich heute gut für dich anfühlt.»

Und bitte keine Drohungen wie:

«Du musst etwas essen. Oder willst du sterben?»

Deine Haltung entscheidet.



Hand halten


Und für dich selbst: Du darfst mitfühlen – ohne mitzuleiden


Bevor wir über mögliche Medikamente sprechen, ist mir persönlich noch etwas sehr wichtig.

Etwas, das man im Alltag so leicht vergisst – besonders, wenn man selbst mit am Tisch sitzt und jede Gabel zählt:


Appetitlosigkeit beim geliebten Menschen zu erleben, ist belastend.

Aber du bist nicht verantwortlich, jemanden „zum Essen zu bringen“.

Du bist da, um Wärme, Ruhe und Sicherheit zu halten.

Das ist das Wertvollste überhaupt.


Ich kenne das aus meiner eigenen Situation.

Mein Mann wog noch vor kurzer Zeit gut 85 Kilo. Er hatte Kraft, Breite, Präsenz.

Und dann – innerhalb weniger Wochen – "schmolz" er mir förmlich dahin auf unter 70 Kilo.

So schnell, dass meine Hände kaum nachkamen, ihn zu halten.


Es ist ein Gefühl, als würde dir der Mensch, den du liebst, langsam durch die Finger gleiten.

Nicht nur emotional.

Sondern ganz real, körperlich.

Der Arm, den man hält, wird schmal. Man hat Angst ihn zu verletzen, wenn man mal fester zugreift.

Die Schultern, die früher Wärme trugen, wirken plötzlich so zerbrechlich.

Man beginnt, Angst zu bekommen – nicht nur vor dem, was kommt, sondern vor dem, was man sieht.

Und das tut weh.

Sehr sogar.

Aber:

Es ist nicht unsere Schuld.

Wir können diesen Prozess nur begrenzt beeinflussen.Und was oft am meisten zerreisst, ist nicht der Gewichtsverlust selbst –sondern der Versuch, dagegen anzukämpfen.

Denn in vielen Familien wird genau hier gestritten:

„Du musst doch mehr essen.“

„Du willst doch leben.“

„Du darfst nicht einfach aufgeben.“

Ich habe das früher auch manchmal gedacht. Und ich verstehe jede*n, der so reagiert.

Es kommt aus Sorge, aus Liebe, aus Angst.

Aber was unsere Liebsten dann am meisten brauchen, ist Entlastung:

Anerkennung, dass es schwer ist.

Zärtlichkeit, die nicht drängt.

Präsenz, die nicht fordert.


Wir können nicht erzwingen, dass jemand isst.

Aber wir können dafür sorgen, dass er sich sicher, gehalten und nicht beurteilt fühlt.



Medikamentöse Unterstützung – was heute häufig eingesetzt wird


Neben Ernährung und liebevoller Begleitung gibt es, wie bereits erwähnt, gewisse medizinische Möglichkeiten, den Appetit zu unterstützen. Sie werden immer individuell entschieden – je nach Tumor, Begleiterkrankungen und Belastungssituation.


Cortison (z. B. Dexamethason, Prednison)

Cortison wird in der Onkologie sehr bewusst und zeitlich begrenzt eingesetzt.

Es kann:

  • den Appetit anregen

  • Übelkeit reduzieren

  • Energie und Wachheit steigern

  • Entzündungsreaktionen im Körper senken

Viele Patient*innen berichten, dass sie nach einer Cortison-Gabe wieder Lust auf Essen haben und sich für einige Stunden lebendiger fühlen.


Wichtig zu wissen:

  • Es eignet sich nicht für eine Langzeitlösung.

  • Langfristig kann Cortison zu Muskelschwäche, Schlafstörungen und Wassereinlagerungen führen.

  • Daher wird die Dosis immer regelmässig überprüft.


Cortison ist oft eine Brücke – eine Phase, die Stabilität schafft, damit Körper und Seele wieder etwas Raum bekommen.


THC / Cannabis-Medizin

In den letzten Jahren wird Cannabis in der Krebstherapie zunehmend genutzt.Und zwar nicht aus „alternativen“ Gründen, sondern klinisch begründet.


THC (Tetrahydrocannabinol) kann:

  • Appetit anregen (ähnlich wie bei „Munchies“, aber gezielt dosiert)

  • Übelkeit lindern (besonders bei Chemo-bedingter Übelkeit)

  • Schmerzempfinden modulieren

  • Entspannung fördern und Stress reduzieren

  • Schlaf verbessern (vor allem nachts)


Gerade in Kombination mit CBD entsteht eine gut verträgliche Wirkung:

  • CBD reduziert Angst, Muskelanspannung und Überreizung

  • THC fördert Appetit und Entspannung


Diese Kombination unterstützt nicht nur den Körper, sondern auch die seelische Belastung.

Wichtig:

Cannabis-Medikamente werden exakt dosiert und als Tropfen, Öl oder Kapseln verordnet – nicht als gerauchter Joint.

Das medizinische Ziel ist Regulation, nicht die Berauschung.


Worauf es bei allen medikamentösen Hilfen ankommt


  • Es geht nicht darum, jemanden „zum Essen zu bringen“.

  • Es geht darum, dem Körper wieder Zugang zur eigenen Kraft zu ermöglichen.

  • Medikamente sind Werkzeuge, aber keine Lösungen – sie wirken am besten im Zusammenspiel mit:

    • Wärme

    • Ruhe

    • Sicherheit

    • Schmerzmanagement

    • liebevoller Begleitung


Denn der Körper kann auch nur dann verdauen, wenn er sich sicher fühlt.



Alles Liebe,
eure Yvonne

 
 
 

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