Pflegende Angehörige unter Druck
- Yvonne Berengeno
- vor 2 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
Warum sich Pflegeberichte ähneln – und was Krankenkassen dabei übersehen
Pflege bedeutet Wiederholung.
Es ist das tägliche Aufstehen, das Anreichen, das Helfen, das Beobachten. Es ist Routine, Aufmerksamkeit, Geduld – und es ist vor allem: Verantwortung.
Doch in der Schweiz sorgt genau diese Wiederholung häufig für Unruhe. Krankenkassen beanstanden immer wieder die Pflegeberichte pflegender Angehöriger mit dem Hinweis, sie seien zu ähnlich, zu wenig aussagekräftig, zu wenig individuell.
„Pflege verläuft nie linear“, heisst es dann. „Auch in stabilen Situationen ist es nicht plausibel, dass jeder Einsatz gleich verläuft.“
Auf dem Papier klingt das nachvollziehbar. In der Realität ist es eine Fehleinschätzung. Denn wer Pflege lebt, weiss: Gerade dort, wo sie gelingt, sieht sie Tag für Tag gleich aus.
Ein System, das noch in den Kinderschuhen steckt
Das Modell der pflegenden Angehörigen ist in der Schweiz noch jung. Erst seit wenigen Jahren können Angehörige über Spitex-Organisationen angestellt und für ihre Pflegearbeit entlöhnt werden.
Was in vielen anderen Ländern schon länger möglich ist, wurde hier erst zögerlich eingeführt – ein wichtiger Schritt, denn Millionen Stunden unbezahlter Pflege wurden bislang im Schatten geleistet.
Nun werden pflegende Angehörige in ein professionelles System eingebunden, das klare Strukturen kennt: Leistungsnachweise, Dokumentationspflichten, Qualitätskontrollen.
Damit die Krankenkassen die Kosten übernehmen können, müssen diese Angehörigen täglich einen sogenannten "Pflegebericht" verfassen – meist digital, mit viel Mühe, oft spätabends nach einem langen Tag.
Diese Berichte sind keine Kür, sondern Pflicht.
Ohne sie erfolgt keine Vergütung. Sie sind der Nachweis dafür, dass Pflegehandlungen durchgeführt wurden, warum sie notwendig waren und wie die gepflegte Person darauf reagiert hat.
Pflegende Angehörige müssen also dokumentieren, was sie getan haben, warum sie es getan haben, wie sie es getan haben – und ob es wirksam war. Erst dann kann die Spitex die Leistungen prüfen und mit der Krankenkasse abrechnen.
Pflege verläuft nicht wie eine Fernsehserie
Doch wer einen Menschen zu Hause pflegt, weiss: Die meisten Tage sind sich sehr ähnlich.
Das ist kein Mangel an Vielfalt, sondern Ausdruck von Stabilität.
Der Mensch isst, hustet, schläft, schwitzt, braucht Unterstützung beim Aufstehen, beim Waschen, beim Inhalieren.
Die Handgriffe, die Worte, die Abläufe – sie folgen einer Routine, die Sicherheit schafft. Gerade auch bei Kindern mit Autismus Spektrum Störung oder Menschen mit Alzheimer Demenz und anderen kognitivem Einschränkungen ist Routine massgeblich wichtig für die Lebensqualität!
Wenn also in einem Pflegebericht mehrfach hintereinander steht:
„Körperpflege durchgeführt, Inhalation gut vertragen, Hustenreiz danach vermindert“,dann ist das kein Zeichen von Einfallslosigkeit, sondern von Kontinuität.
Pflege soll nicht jeden Tag anders sein. Pflege soll halten, was sie verspricht: Stabilität, Sicherheit, Verlässlichkeit.
In Spitälern oder Pflegeheimen wird diese Realität längst anerkannt. Dort dokumentiert man digital über standardisierte Programme mit sogenannter "Leistungserfassung" . Häkchen werden gesetzt bei erledigten Pflegehandlungen laut Pflegeplanung. Im eigentlichen Bericht steht da nur noch: „Keine besonderen Vorkommnisse.“
Niemand würde auf die Idee kommen, diese Berichte als ungenügend zu bezeichnen.
Im häuslichen Bereich hingegen werden Angehörige, die von Hand schreiben, für die gleiche Sachlichkeit gerügt.
Das zeigt, wie jung und unausgegoren das System noch ist – und wie wenig Verständnis für die Realität häuslicher Pflege in manchen Verwaltungsstrukturen vorhanden ist.

Die Last der Sprache
Pflegende Angehörige sind keine diplomierten Pflegefachpersonen. Sie sind Mütter, Töchter, Partner, Söhne. Menschen, die hineingewachsen sind in eine Aufgabe, die eigentlich nie ihre war.
Sie waschen, inhalieren, lagern, reichen Medikamente an, beobachten, trösten, reagieren. Und sie schreiben Berichte. Jeden Tag.
Von ihnen zu erwarten, dass sie die Sprache einer Pflegeexpertin verwenden, ist realitätsfern. Sie erhalten weder dieselbe Ausbildung noch denselben Lohn. Sie müssen keine Fachbegriffe beherrschen, sondern handlungsfähig bleiben.
Was zählt, ist die Ehrlichkeit der Einträge: dass sie wiedergeben, was wirklich geschieht, und dass nachvollziehbar bleibt, dass Pflege geleistet wurde – mit Herz, mit Routine, mit Verantwortung.
Krankenkassen sollten verstehen: Es geht nicht um kreative Formulierungen, sondern um die Frage, ob Pflege wirksam, plausibel und kontinuierlich ist.
Pflegeberichte sind keine literarische Disziplin. Sie sind Beweisdokumente. Und Beweise müssen nicht schön sein – sie müssen stimmen.
Die Pflegeplanung, welche die zu leistenden Massnahmen und deren Begründung im Detail dann festhält, wird ohnehin regelmässig von der zugeteilten Fachverantwortlichen erstellt, überwacht und angepasst.
Ein Misstrauen, das Vertrauen zerstört
Wenn Krankenkassen monieren, Berichte seien „nicht aussagekräftig“, trifft das jene am härtesten, die ohnehin am Limit sind. Pflegende Angehörige, die nachts kaum schlafen, die zwischen Medikamenten, Arztterminen, Schmerzanfällen und Alltag navigieren. Menschen, die längst über ihre Kräfte hinaus leisten.
Sie schreiben, weil sie müssen, nicht weil sie wollen. Sie schreiben, um weiter pflegen zu dürfen. Um ihren Familienangehörigen ein würdiges Leben im gewohnten, häuslichen Umfeld ermöglichen zu können. Und wenn ihnen dann vorgeworfen wird, sie seien zu gleichförmig, zu oberflächlich, zu wenig individuell, dann ist das nicht nur ungerecht, sondern respektlos.
Denn in Wahrheit zeigen diese sich wiederholenden Berichte etwas, das in keinem Formular vorgesehen ist:
Sie zeigen Beständigkeit.
Sie zeigen, dass Pflege funktioniert.
Sie zeigen, dass jemand Tag für Tag da ist.
Das Misstrauen gegenüber pflegenden Angehörigen entsteht oft aus einer Verwaltungslogik, die das lebendige, menschliche Element ausblendet. Es ist der Versuch, Pflege messbar zu machen – in Minuten, Codes, Formulierungen.
Doch Pflege ist keine Zahl. Pflege ist Beziehung.

Ein System zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Angehörigenpflege ist eine grossartige Idee, die das Schweizer Gesundheitswesen dringend brauchte. Sie spart Kosten, entlastet Institutionen und ermöglicht Menschen, dort zu bleiben, wo sie sich am wohlsten fühlen: zu Hause.
Doch das System steht noch am Anfang. Es gibt zu wenig Schulungen, zu viel Bürokratie, zu wenig Vertrauen. Die Kassen verlangen Berichte, die Fachsprache klingen sollen, während die Spitex die Aufgabe hat, Laienpflege zu begleiten, ohne sie zu überfordern.
Dabei wäre die Lösung einfach:
Man müsste akzeptieren, dass Pflege im häuslichen Bereich anders aussieht – und anders klingt.
Dass Routine kein Mangel ist, sondern ein Erfolg.
Und dass pflegende Angehörige keine Hilfskräfte zweiter Klasse sind, sondern tragende Säulen des Gesundheitswesens.
Mehr Verständnis, weniger Kontrolle
Pflegeberichte sind das Rückgrat der Abrechnung, aber sie sind auch Spiegel des Alltags. Sie zeigen, was getan wurde, warum es getan wurde, und ob es geholfen hat.
Wenn sie sich ähneln, dann deshalb, weil Pflege wirkt – weil Stabilität eingekehrt ist.
Vielleicht sollten wir anfangen, uns darüber zu freuen.
Denn in einer Welt, in der Krankheit oft unberechenbar ist, ist jeder Tag, der gleich verläuft, ein Geschenk.
Pflegende Angehörige brauchen keine Misstrauenskultur, sondern Unterstützung, Begleitung und Wertschätzung.
Sie brauchen Krankenkassen, die verstehen, dass Sprache nicht gleich Qualität ist.
Und sie brauchen eine Gesellschaft, die erkennt, dass diese Form der Pflege kein Notbehelf ist, sondern ein fundamentaler Bestandteil eines menschlicheren Gesundheitswesens.
Pflege ist selten bunt, selten laut, selten spektakulär.
Sie wiederholt sich.
Und genau darin liegt ihre Stärke.
Denn Wiederholung bedeutet, dass jemand da ist.
Dass jemand sorgt.
Und dass jemand bleibt.
Alles Liebe,
eure Yvonne
Über die Autorin:
Yvonne Berengeno ist Pflegefachfrau und Expertin für ganzheitliche Krebsbegleitung. Sie unterstützt eine Spitex-Organisation für pflegende Angehörige und setzt sich dafür ein, dass häusliche Pflegearbeit in der Schweiz endlich die gesellschaftliche und institutionelle Anerkennung erhält, die sie verdient.